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                        | 1906-1914  KINDHEIT IN STARITZKE 
                            Otto Flath, geb. 9. Mai – nach russischem Kalender 28. April 1906 –, war der mittlere dem Alter nach. Drei ältere Geschwister wurden vor ihm in Staritzke geboren: Oskar, geb. 24.2. 1899, gest. 1966 in Kiel, 
                            Emma-Margarethe, geb. 15.·9. I901, lebt in Kiel, Arthur, geb. 27. 7. 1904, gest. 29. 05. 1988 in Kiel, und nach ihm drei jüngere Geschwister: Lydia, geb. 2. 8. 1907, lebt in Kiel, Berthold, geb. 8. 6. 1912, gest. 1985 
                            in Kiel, und Valentine, geb. 10. 1. 1914, lebt in Kiel.In dem Heft: »0tto Flath – Leben und Wirken« hat Lydia Peters Wesentliches aus Otto Flaths Kindheit und Jugend berichtet. So möchte ich mich 
                            hauptsächlich auf seine eigenen Erzählungen beschränken und diese mit seinen Worten wiedergeben: »Ich war ein so schwächliches, rachitisches Kind, daß die Eltern lange um mein Leben fürchteten und ich 
                            erst mit drei Jahren laufen lernte. Meine früheste Erinnerung ist eine große Küche mit einem Holzfußboden, auf dem ich und meine gut ein Jahr jüngere Schwester Lydia herumrutschten, während die Eltern und die großen 
                            Geschwister erstaunlich schnell an uns vorübereilten. Eines Tages sah ich, wie die kleine Lydia am Tisch stand, sich losließ und ohne Stütze ein paar Schritte machte. Da nahm ich all meinen Mut zusammen, zog mich am 
                            Stuhlbein hoch, ließ mich los und ging hinter ihr her. Das beeindruckende Gebäude aber meiner frühen Kindheit war nicht Großvaters Haus, in dem wir mit wohnten, nicht die riesige Küche und die vielen 
                            Kammern daneben für die Erwachsenen, – unser geliebtestes Haus war die Scheune. Sehr hoch und sehr breit erschien sie uns; mächtig schützte sie uns vor dem kalten Wind, der meistens über die weiten Felder blies. Wenn 
                            die Sonne schien, spielten wir dort glücklich und fühlten uns in der Wärme geborgen. Im Sommer war die Scheune unser Schlafzimmer.  Arthur, mein zwei Jahre älterer Bruder, und ich schliefen dort im 
                            großen Schlitten. Auch unsere kleinen Hündchen durften wir dort bei uns haben. Im Alter von etwa vier oder fünf Jahren bekamen wir die Aufgabe, den Sommer über Großvaters 18 Kühe zu hüten. Gegen 4 Uhr wurden wir geweckt 
                            und zogen los, während meistens noch der Reif auf den Feldern lag. Ich erinnere auch Rauhreif an den Bäumen und Kälte. Das muß schon im September gewesen sein. Es war schwer für uns Kleinen, die Kühe zu hüten. Sie 
                            sollten den Weg entlang zum Wald laufen, aber rechts und links waren Getreidefelder der Nachbarn ohne Zäune und ohne Gräben, und natürlich liefen die Kühe immer wieder hinein und mußten immer wieder vertrieben werden. 
                            Waren sie endlich glücklich im Mischwald oder auf einem Brachfeld, dann hatten wir es besser. Wir bastelten Flöten aus Holunder oder kleine Wägelchen aus Kiefernstückchen, vor die wir Hirschkäfer als Zugtiere spannten. Spaß machten uns auch unsere kleinen Hunde, die wir sehr liebten. Wir teilten jede Mahlzeit mit ihnen: Brot und Milch, die sie aus einer Erdkuhle schleckten. Mittags mußten die Kühe, um 
                            gemolken zu werden, wieder in den Stall zurück. So hatten wir unser Mittagessen zu Hause. Danach trieben wir sie für den Nachmittag wieder nach draußen. So verbrachten wir die Tage von Mai bis September, 
                            auch bei Regen und Rauhreif. Da wir, wie alle Kinder dort, im Sommer barfuß liefen, fanden wir es oft recht kalt, aber an warmen Tagen war es schön, den ganzen Tag in der freien Natur zu sein. Kamen wir abends müde nach 
                            Hause und hatten unsere Kühe im Stall, bekamen wir Abendbrot; manchmal hackten wir noch Rüben. Wie überall auf dem Lande war das Leben im Winter sehr verschieden vom Sommer. Die Küche mit dem großen Herd 
                            war dann Mittelpunkt der großen Familie. Mit einer Magd kochte unsere Mutter für ungefähr zwanzig Personen: Großvater, - unsere Großmutter war schon sehr früh gestorben - die Brüder des Großvaters, seine Söhne, unsere 
                            Eltern, Knecht und Magd und wir Kinder. Dicht neben Großvaters Hof lag die Schule. An manchen Sonntagen hielt der Lehrer dort eine kleine Andacht. Für uns aber war das große Ereignis, daß Arthur zur Schule kam und 
                            Wörter auf deutsch und russisch buchstabieren lernte. Da wollte ich auch zur Schule gehen, lief einfach hin und spielte in der Pause mit den anderen Kindern. Ich fühlte mich schon ganz glücklich, 
                            zugehörig zu den Großen. Aber dann klingelte es, alle Kinder liefen weg, und ich stand ganz allein auf dem großen Schulhof. Ich wartete, aber niemand kümmerte sich um mich. Sehr traurig schlich ich dann nach Hause. Da 
                            war immer unsere Mutter, freundlich, liebevoll, tröstend, obwohl ich sie nur arbeitend erinnere, in der Küche bei den Mahlzeiten oder abends an der kleinen Handnähmaschine, auf der unsere Kleidung unermüdlich neu 
                            zusammengeflickt wurde – durch Jahre hindurch, auch noch in Kiel. Auch der Großvater war fast immer zu Hause. Aber er war die Respektsperson, vor der wir Angst hatten. Waren wir zu wild und ausgelassen, 
                            konnte es Prügel geben. Die russischen Bauern im Dorf achteten ihn als Autorität. Wir Kinder fanden es komisch, daß sie vor dem Großvater tiefe Verbeugungen machten. Wir wußten ja nicht, daß er ihr 
                            Bürgermeister war und ihnen in vielen Dingen half. Unser Vater war fast immer unterwegs. Vor ihm hatten wir keine Angst, er war immer sanft und mild wie die Mutter. Es gab kein hartes Wort in unserer Familie. So hatten 
                            wir eine glückliche Kindheit. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, August 1914, endet dieser Lebensabschnitt der frühen Kindheit, in dem wir einfach lebten, aber uns geborgen, geliebt und glücklich 
                            fühlten.« |  |  | 
        
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                        | 1914-1917  AUSWEISUNG NACH CHARKOW 
                            1. August 1914! Kriegserklärung Deutschlands an Rußland, nachdem Rußland gegen Deutschland mobil gemacht hatte. Otto Flath sieht seine Erinnerungsbilder und malt sie mit folgenden Worten:»An einem 
                            heißen Sonnentag, Anfang August, als wir im Dorf spielten, ritten plötzlich russische Soldaten in bunten Uniformen zum Hof des Großvaters, sprangen ab und verlangten, ihn zu sprechen. Wir Kinder genossen das Schauspiel, 
                            rannten hin und stellten uns dazu. Wirverstanden nichts, aber die Russenjungen, mit denen wir immer schön gespielt hatten, umringten uns und schrien: »lhr müßt weg! Ihr müßt alle weg! Alle! « Tagelang hörten wir dies 
                            Geschrei. Die Eltern erklärten uns: Krieg! Ausweisung! Der Großvater, der mit seinen Brüdern und Söhnen schon lange die russische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, durfte bleiben. - - - Die Soldaten, die, wie es 
                            hieß, einen langen Ritt hinter sich hatten, wurden gut bewirtet und kamen erst nach zwei Wochen wieder. Aber dann wurde es Ernst. Der Vater wurde, als er unterwegs war, um Wurst zu verkaufen, ergriffen und zur 
                            Internierung nach Sibirien abgeführt. Wir sorgten uns, weil er nicht nach Hause kam, aber Mutter hat ihn danach vor dem Abtransport in Poltawa noch gesehen. Wir sollten uns auf der nächsten Bahnstation Poltawa 
                            einfinden. Für uns Kinder war das alles sehr interessant, und wir bewunderten die schönen Uniformen der russischen Offiziere. Großvater stellte einen Leiterwagen mit Pferd zur Verfügung. Haushaltsgegenstände, die 
                            Handnähmaschine, Kochtöpfe, Teller, Schüsseln, Kleidung kamen hinein. Obenaufwurden Federbetten gepackt, und in die hinein setzten sich alle Kinder unserer Familie und unsere Mutter mit der kleinen Vally, die erst ein 
                            halbes Jahr alt war. So rumpelten wir auf dem ungepflasterten Sandwege davon, während Großvater, seine Brüder und Söhne uns nachwinkten. Unsere Mutter weinte, — warum nur? Es war doch ganz lustig. Daß 
                            wir nie wiederkommen würden, habe ich damals nicht geahnt. Auch meinen kleinen schwarzen Hund durfte ich noch mitnehmen. In Poltawa wurden wir mit fünf anderen Familien in einen Viehwagen geladen. Es war 
                            dort eng, aber solange der Wagen geöffnet war, fanden wir Kinder es recht lustig, die Beine herausbaumeln zu lassen beim Sitzen auf dem Rand. Aber dann wurde auch uns die Fahrt von 18 Tagen bis Charkow 
                            sehr lang. Unterwegs gab es heißes Wasser und Tee. In Charkow aber wurde alles noch viel schlechter. Für 6 Tage wurden wir im Lagerraum einer Fabrik eingesperrt und danach für Wochen in einen Zirkus ohne Toiletten und 
                            ohne Wasser. Das war für meine Mutter mit den kleinen Kindern eine Qual. Endlich holte man uns heraus und brachte uns in ein kleines, russisches Haus am Wald, am Stadtrand von Charkow. Ich freute mich. 
                            Bäume! Holz! Ich könnte wieder, wie schon in Staritzke, Spielzeug für die Kleinen schnitzen. Das war meine große Freude, und ich blieb dabei, obwohl ich mich einmal in Charkow sehr in die Hand geschnitten hatte und 
                            meine schon sehr mütterliche, fürsorgliche Schwester Lydia mein dauerndes Hantieren mit dem Messer gar nicht gerne sah. Sie war ein Jahr jünger als ich und ein Mädchen! Warum sollte ich gehorchen!? Aber Oskar, unser großer, schon 15jähriger Bruder, der Vaterstelle ausfüllen wollte, war auch für Arthur und mich Respektsperson; ihm gehorchten wir aufs Wort. Lydia hatte genug mit den beiden Kleinen zu 
                            tun, mit Berthold und Vally. Unsere überbeschäftigte Mutter war dankbar für ihre Hilfe. Das war auch nötig in dem einen großen Raum, den wir zugewiesen bekamen und der Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche gleichzeitig war.
                             Das Feuerholz mußten wir Jungen, Arthur und ich, von den Bäumen holen. Wir kletterten hinauf und traten die morschen Aste ab. Dabei hatte ich immer Angst, ich kletterte nicht gern. Wasser holten wir von 
                            einer etwa 50 m entfernten Quelle. Wir wuschen uns in einem Teich, wo auch die Wäsche gewaschen wurde. Meine größte Freude war eine Lehmwand beim Teich. Ich konnte kneten, schuf meine ersten Figuren, meine ersten 
                            Mensehen und Tiere. In diesem Teich lernten wir auch schwimmen auf einem luftgefüllten Kopfkissenbezug. Das war nur Freude, im Wasser hatte ich keine Angst. Mit den Kindern der Russenfamilie spielten wir 
                            auch, aber da war viel Zank und Streit, und manchmal wurden die Kinder verprügelt. Das kannten wir nicht, unsere Eltern gaben uns kein böses Wort. So hatten wir es gut als Kinder. Nur das Geld war sehr 
                            knapp, das wir vom Deutschen Konsulat bekamen. Wir sollten ein wenig hinzuverdienen. Oskar, unser großer Bruder, der sich ja nun als Stellvertreter des Vaters fühlte, brachte schon Geld mit nach Haus, das er in einer 
                            Fabrik verdient hatte. Arthur und ich, neun oder zehn Jahre alt, wollten nun auch Geld verdienen. Oskar fragte seine Firma, ja, wir dürften kommen. Es wurden da kleine Metallsiebe angefertigt. Arthur kam 
                            ganz gut damit zurecht, aber ich war wohl ungeschickt. Jedenfalls hatte ich nach ein paar Tagen so wunde Hände, daß die Mutti mich zu Hause ließ. Ich wollte aber doch so gern auch Geld verdienen! Da meldete ich mich zum 
                            Zeitungsverkauf auf der Straße. Ach, ich war viel zu schüchtern! Ich sehe mich noch an der großen Straße stehen, mit zitternden Händen eine Zeitung hochhalten und mit viel zu leiser Stimme die Vorübergehenden 
                            ansprechen. »Juschnikai! Juschnikai!« Das war wohl der Name der Zeitung. Ganz selten blieben Leute stehen und kauften eine. Drei oder vier Zeitungen hatte ich nach Stunden verkauft, und den großen Packen trug ich abends 
                            beschämt wieder zurück. Arthur war auch hier viel erfolgreicher. Unsere »Berliner«, die Mutti gebacken hatte und die wir so gerne selbst gegessen hätten, wurden wir beide auf der Straße und auf dem Markt 
                            kaum los. Einmal nahm ein Cafe uns alle ab, und wir waren glücklich. Manchmal kam ein offener Pferdewagen die Straße entlang, die eine Steigung hatte. Wenn dann die Pferde deshalb langsam gehen mußten, 
                            sprangen wir hinten auf, verkauften Zeitungen und sprangen schnell wieder ab, bevor es den Berg hinunterging. Das klappte gut. Trotz dieser seltenen Erfolge waren wir als Kinder sehr fröhlich. Wir spielten mit den 
                            Russenkindern und besonders mit einem sehr netten Polenjungen. Auf einem benachbarten Gutshof saß im Sommer draußen ein Papagei, den wir so gerne ärgerten. Wir riefen auf russisch: »Du bist verrückt!« Und er krähte die 
                            Antwort: »Selbst verrückt, selbst verrückt!« Arthur ging wieder zur Schule, mir gelang es auch hier nicht, aufgenommen zu werden. Woran das lag, weiß ich nicht. Vielleicht war ich zu kränklich. Etwa 1916 
                            hatte ich eine schwere Krankheit, die Ruhr. Ich weiß noch, daß die Mutter, die Geschwister und ein Onkel viel an meinem Bett standen und jeden Tag so ein Sanitäter kam. Ich fühlte mich völlig gelöst im Innern, die ganze 
                            Welt war mit entschwunden. Später wurde mir erzählt, daß sie um mein Leben gefürchtet hätten. |  |  | 
        
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                        | 1917 – 1919  AUSWEISUNG AUS RUSSLAND ÜBER RIGA Herbst 1917! Nach der bolschewistischen Revolution wurden alle Deutschen ausgewiesen. Endlose Trecks zogen zur Bahnstation, wo schon wieder die Viehwagen bereitstanden. Wie 
                            vor drei Jahren mußten wir mit anderen Familien zusammen in einen Wagen. Wieder stand der Zug oft tagelang still, wieder war die ganze Betreuung heißes Wasser für Tee. Ich war todtraurig: Ich hatte meinen geliebten 
                            schwarzen Spitz bei einer Nachbarin in Charkow lassen müssen, er durfte nicht mit. Aber als wir kaum im Wagen waren, kletterte eine Frau mit einem schwarzen Spitz, der genauso aussah wie meiner, hinterher. Weil ich ihn 
                            so sehnsüchtig ansah, durfte ich ihn auf den Arm nehmen. Ich drückte ihn an mich, und der Hund freute sich darüber, als ob er mich kennte. Das war zuviel! Ich weinte bitterlich, während ich ihn streichelte und 
                            liebkoste. »Willst du ihn behalten?« fragte die Frau, »ich muß ihn in Riga doch abgeben. Er heißt Boppy.« »Boppy« - meine Tränen flössen aufs neue. Da griff meine Mutter ein und erlaubte mir, ihn zu behalten. Das war 
                            ein großes Glück in allem Elend.Nach Riga fuhr unser Zug. Von da hofften wir, ein Schiff nach Deutschland zu bekommen. Riga während der Revolution! Bis dahin war unser Leben trotz der Entbehrungen fast 
                            idyllisch gewesen. Unsere liebevolle Mutter, die hart arbeitete und jeden Abend noch stundenlang mit einer kleinen Handnähmaschine unsere Kleider immer wieder flickte, gab uns trotz allem das Gefühl der Geborgenheit. 
                            Die Liebe regierte bei uns. Aber jetzt! Dieses Riga erschien uns wie eine Art Hölle. Da habe ich die schlimmsten Erinnerungsbilder meiner Kindheit. Im 3. Stock eines Miethauses wurden wir mit einer anderen Familie 
                            zusammen in einem großen Raum untergebracht. Wir erhielten Lebensmittelkarten mit kümmerlichen Zuteilungen. Auf den Straßen wurde geschossen. In den zwei Jahren, die wir in Riga zubringen mußten, sahen wir immer Tote 
                            auf den Straßen liegen und in der Düna schwimmen. Die weiße Armee kämpfte gegen die Bolschewiken. Adelige und Geistliche wurden ermordet. Die Bilder auf den Straßen waren entsetzlich. Schlimm war die 
                            Hungersnot, die Jetzt über uns kam. Die Zuteilungen reichten nicht. Die Kartoffeln im Keller, die wir essen durften, waren von den Bolschewiken unter Wasser gesetzt worden, waren verfault und rochen fürchterlich. 
                            Trotzdem waren sie lange Zeit unsere Hauptnahrung. Mutter backte Pfannkuchen daraus, die wir aßen und manchmal sogar auf dem Markt verkauften. Auch aus Hafer, den Mutter von irgendwoher bekam, und den sie mit einer 
                            kleinen Mühle mahlte, machte sie Pfannkuchen. Aber die Spelzen waren noch darin, kratzten sehr im Hals, und die Leute schimpften hinter uns her, wenn sie diese von uns gekauften Pfannkuchen aßen. Aber auch uns bekam 
                            nichts mehr. Wir mußten uns häufig übergeben, bekamen dicke Bäuche und hatten keine Kraft mehr. Weil wir die drei Treppen in unsere Behausung nicht mehr hinaufsteigen konnten, zogen wir ganz in den Keller. Eines Tages war Oskar verschwunden. In den Straßen waren täglich Kämpfe. Bolschewisten kämpften gegen Letten, die weiße Armee und die deutsche Eiserne Division kämpften gegen die Bolschewisten. Die 
                            Eiserne Armee stellte Oskar, der ja die deutsche Staatsangehörigkeit hatte, als Soldaten ein. Wie wir sehr viel später erfuhren, kam er dann lange vor uns mit einem Marine-Schiff nach Kiel, wo er uns, nachdem er zur See 
                            gefahren war, endlich wiederfand. Jetzt war er für uns einfach weg, und das war natürlich sehr aufregend. Dann packte uns das Fieber, alle Kinder und die Mutter: Hungertyphus! — Und mitten in diesem 
                            Elend stand plötzlich der Vater, auch typhuskrank, aber trotzdem, welche Freude! Er war nach dem Kriege entlassen worden, von Sibirien nach Charkow und von da nach Riga gefahren und war so glücklich, daß er uns gefunden 
                            hatte. Trotz seiner Krankheit brachte er die Kraft auf, einen Letten für Geld dazu zu bringen, uns mit einer Karre auf ein deutsches Schiff zu schaffen, das nach Lübeck fahren sollte. Die Eltern saßen auf der Karre, 
                            wurden geschoben. Wir Kinder mußten uns alle anfassen und gegenseitig stützen, wenn uns die Schwäche übermannte. Das war ein schwerer Weg. Aber ungehindert, an den auf der Straße liegenden Leichen vorüber, kamen wir 
                            ohne jede Kontrolle auf das Schiff. Erst auf hoher See merkte die Besatzung, daß wir alle krank waren und brachte uns in Quarantäne. Nur Arthur und ich entflohen häufig unserem dunklen Zwischendeck und 
                            liefen im ganzen Schiff herum, bis man uns entdeckte und zurückjagte.  
                            Sie brachten uns gutes Essen, das wir nicht bei uns behalten konnten. In Lübeck kamen wir alle zunächst in ein Krankenhaus. Das war im Frühjahr 1919.Im Krankenhaus kamen wir alle zusammen in einen Raum, der isoliert wurde. Wir wurden gut gepflegt. Am elendesten soll ich gewesen sein. Ich erhielt auch täglich ein besonderes Essen. Nach einigen Wochen 
                            konnte man uns aber alle entlassen und mit der Bahn, im richtigen Personenwagen, nach Kiel schicken, wo wir eine endgültige Unterkunft finden sollten. |  |  | 
        
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                        | 1919 - 1922  ANKUNFT IN KIEL-MELSDORF Das nächste Bild, das sich in meine Erinnerung eingegraben hat, ist die Ankunft in Kiel. Vater, Mutter und wir sechs Kinder saßen stundenlang auf unseren Gepäckstücken auf 
                            dem Bahnsteig und warteten, daß uns jemand abholte. Aber lange Zeit kam niemand, und wir fühlten uns sehr verloren.Endlich kam ein Herr, der im Auftrage der Behörde die Eltern von uns trennte und uns 
                            Kinder zusammen in ein großes Haus brachte, das, wie wir dann voll Schrecken feststellten, ein Waisenhaus war. Keiner erklärte uns etwas. Immerhin war Grete 17, Arthur 14, ich 13, Lydia 12 - die Kleinen: Berthold 7 und 
                            Arthur 5 Jahre alt; sie waren verstört, und wir konnten sie nicht trösten. Wo waren die Eltern? Sollten wir nun immer in diesem Waisenhaus bleiben? Das war ein entsetzlicher Gedanke, schien uns schlimmer als alles, was 
                            wir vorher erduldeten. Ein Leben ohne die Mutter, bei fremden Menschen, die Macht über uns hatten und jeden Schritt überwachten! In einem entbehrungsreichen Leben, aber in Ordnung und Freiheit, gehalten von der Liebe 
                            unserer Eltern, waren wir aufgewachsen. Wir hatten gelernt, vieles zu ertragen, aber dies war zuviel. Wo waren unsere Eltern? Wohin hatte man sie gebracht? Würden wir sie je wieder sehen? Vater war für Jahre fort 
                            gewesen, Oskar war noch verschwunden, und auch die Eltern wußten nicht, wo er war. Wäre er wenigstens hier, dachten wir, er hätte die Aufseher gefragt nach allem; wir wagten es nicht. Nach gar nicht langer Zeit, 
                            vielleicht nur einer Woche, standen plötzlich die Eltern an der Haustür, und wir durften mit ihnen das Waisenhaus verlassen. War das ein Glück! — Die Eltern waren in einem Hotel gewesen, mußten tagsüber 
                            viele Einbürgerungsformalitäten erledigen, konnten abends nicht mehr ins Waisenhaus und ahnten nicht, daß wir uns so aufgeregt hatten. Das damals kleine Dorf Melsdorf bei Kiel wurde unsere nächste Heimat 
                            für Jahre. Im Dorfwaren viele kleine Häuschen, aber auch einige stattliche Bauernhäuser. In den Katen wohnten hauptsächlich Gutsarbeiter, die zu dem benachbarten Gut Mettenhof gehörten. Auch wir sollten nun Arbeiter 
                            dieses Gutes werden, wir alle, auch die Kinder mußten mitarbeiten. Die Hälfte eines ganz kleinen, kümmerlichen Häuschens wurde uns zugewiesen: Strohdach, eine kleine Küche, ein Zimmer, eine Abseite, die 
                            Toilette draußen vor der Haustür. Ein Graben war am Haus und dahinter ein Schweinestall mit einem Schwein, das uns gehören sollte. Etwas Gartenland für Kartoffeln gehörte auch dazu. Dafür mußte Vater täglich auf dem Gut 
                            arbeiten und, wenn möglich, auch Mutter und die größeren Kinder. Geld für die Arbeit gab es kaum. So war es nach der Aufhebung der Leibeigenschaft geblieben. Schön war, daß wir jeden Tag frische Milch vom Gut bekamen. Es ahnte trotzdem keiner, daß unser entbehrungsreiches Leben weiterging. Sicherlich war diese Gutsabmachung die beste und einzige Lösung. Wo hätte man sonst die große, völlig mittellose 
                            Vertriebenenfamilie unterbringen sollen, und wie hätte sie sonst ihren Lebensunterhalt erwerben können? Trotzdem war es besonders schwer für unseren Vater, der nur als Fleischermeister und Händler, nie auf dem Lande 
                            gearbeitet hatte, immer in freier Gestaltung seiner Arbeit, nie in einem Abhängigkeitsverhältnis. Und: In Staritzke waren wir alle angesehen, weil wir zur Familie des Bürgermeisters gehörten. Hier waren wir nur arme 
                            Flüchtlinge aus dem unbekannten und feindlichen großen Rußland. Aber wir alle bemühten uns sehr, das zu tun, was vom Gutshof von uns verlangt wurde. Unsere älteste Schwester Emma Margarete war dort 
                            Mädchen in der Gutsküche und hatte allerlei Vorteile dadurch, wir anderen größeren Kinder mußten auf den Ackern Disteln stechen, was wir ziemlich schrecklich fanden. Fröhlicher ging es bei der Ernte zu, und es war 
                            lustig, auf den hohen Erntewagen zu sitzen. Nur auf den Pferden reiten mochte ich nicht, weil ich Angst hatte. Unserem Vater wurde die Landarbeit nach Jahren zuviel. Er wurde krank, löste das 
                            Gutsverhältnis, als die ältesten Geschwister aus dem Hause waren, und kaufte sich ein Häuschen außerhalb von Russee im Moor. Aber das war viel später. Schon im Herbst 1919 erfolgte die von mir so lange 
                            ersehnte Einschulung. Aber es war schwer. Ich war 13, Lydia 12 Jahre alt. Nun begann für uns zusammen mit den ganz Kleinen der 
                            Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen. Da hab ich mich, weil ich mich so schämte, wenigstens in den Pausen schnell zu den Großen gestellt. Arthur 
                            war schon etwas weiter; er hatte mehr Unterricht gehabt. In dieser zweiklassigen Dorfschule unterrichtete eine Lehrerin die Kleinen, ein Lehrer, Herr Jessen, die Oberklasse. Getrieben von der Scham, mit 
                            den Kleinen lernen zu müssen, also zurück zu sein, habe ich im Unterricht und zu Hause hart gearbeitet mit dem Erfolg, daß ich nach etwa einem Jahr in die Oberklasse zu den Gleichaltrigen kam. Mein größtes Glück aber 
                            war, daß nun Herr Jessen mein Lehrer wurde. Er verstand jeden seiner Schüler und suchte, ihn seinem Wesen gemäß zu fördern. Er verstand auch mich in meiner Schüchternheit und Zurückhaltung. Ich hatte mir 
                            in der Unterklasse, wohl zum Trost, angewöhnt, in alle möglichen Hefte kleine Bilder zu zeichnen, teils mit Bleistift, teils mit Buntstift. Blumen waren es, kleine und große Tiere und auch schon Menschen. Sowie Herr 
                            Jessen solch eine Zeichnung sah, nahm er sie hoch, zeigte sie den anderen Schülern und lobte sie. Das hob mein Selbstbewußtsein, ärgerte aber die Bauernjungen. Dann weckte dieser gute Pädagoge die Freude am Lesen, die 
                            mir täglich bis ins hohe Alter erhalten blieb. Er stellte mir seine ganze Bibliothek zur Verfügung, als ich mühelos lesen konnte. Ich habe alles, aber auch alles gelesen, was mir geboten wurde, und es störte mich gar 
                            nicht, wenn ich von manchen Büchern nur die Hälfte verstand. Die Freude blieb ungestört. Dieser Lehrer hat mir zuerst die Fülle der geistigen Welt aufgeschlossen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Er hat auch meine 
                            künstlerische Begabung gesehen. Später wurde er Mitglied im Otto-Flath-Kreis und ein Freund unseres Hauses. Sicher ist es ihm im wesentlichen zu verdanken, daß ich schon nach 21/2 Jahren, im Frühjahr 1922, als 
                            Zweitbester die oberste Klasse der Schule verlassen konnte. Ich wäre so gerne auf eine weiterführende Schule nach Kiel gegangen wie einige meiner Mitschüler und Mitschülerinnen, aber das war bei unserer Armut nicht 
                            möglich. Vielleicht wäre es auch gar nicht gut gewesen, konnte ich doch so gleich nach der Schule und der Konfirmation mit einer künstlerischen Lehre beginnen. Meine Allgemeinbildung habe ich mir selbst mit dem 
                            täglichen Lesen guter Bücher verschafft. Meine großen Leitbilder waren Michelangelo, Beethoven und Goethe. Zwei Bilder sind mir aus den letzten Schuljahren noch in lebhafter Erinnerung:  
                            Eines Morgens steht ein großer fremder Mann an der Haustür und will die Mutter sprechen. Sie kommt an die Tür und fragt, was er wolle. »Mutter, kennst du mich denn nicht mehr?« sagt er. Oskar! Endlich zurück! Wir waren 
                            alle sehr glücklich mit ihm. Weil es aber zu eng war bei uns, nahm er bald eine Arbeitsstelle mit Wohnmöglichkeit in Kiel an. Das zweite Bild betrifft mich: Ich wollte endlich wieder nicht nur zeichnen, 
                            sondern schnitzen, Holzarbeiten machen. Wo, ja wo? In der Küche stand ein großer hölzerner Küchentisch. Ich dachte, meine Holzschnitzereien könnten ihm nicht schaden und fing an zu arbeiten, als Mutter nicht zu Hause 
                            war. Leider wurde sie sehr böse, als sie ihren zweckentfremdeten Tisch sah, und sie verbot mir die Weiterarbeit. Es bekümmerte mich sehr, und ich sehe sie noch heute mit zornigem Gesicht vor meiner Arbeit stehen. Bald 
                            danach aber war sie lieb wie immer. Später schnitzte ich in Kiel ein Ehrenmal für die Gemeinde Melsdorf. Ein großes Foto davon hängt in der Otto-Flath-Halle in Bad Segeberg. Die Schulzeit 
                            wurde im Frühjahr 1922 mit der Konfirmation in Flemhude abgeschlossen. Lydia und ich wurden gemeinsam konfirmiert. Unsere unermüdliche Mutti schneiderte wieder einen Anzug und ein Kleid aus alten Sachen. Flemhude liegt 
                            etwa 7 km hinter Melsdorf. Man wanderte etwa eine Stunde. Da das für die Eltern zu anstrengend war, gingen wir beiden alleine. Von der Feier in der Kirche hatte ich den Eindruck, daß das etwas Heiliges war, was wir 
                            erlebten. Zu Hause war alles wie sonst auch. Es gab kein Fest, denn es fehlte das Geld, jemand einzuladen. Später habe ich für diese Kirche ein Ehrenmal geschaffen. |  |  | 
        
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                        | 1922 - I928  BEIM ELFENBEINSCHNITZER 
                            UND IN DER MÖBELFABRIKIn dieser Zeit trennten sich Arthurs und mein Lebensweg. Arthur machte schon eine Lehre als Schweizer durch in Freesenburg bei Bad Segeberg. Ich sollte Handwerker werden. Weil ich 
                            so gerne malte, schlugen meine Eltern mir vor, eine Anstreicherlehre zu beginnen. Glücklicherweise konnte ich den Geruch der Farbe nicht vertragen, und so ließen sie diesen Plan fallen. Bevor sie einen neuen Entschluß 
                            faßten, handelte ich selbst.  Ich suchte in der Kieler Zeitung nach Anzeigen, in denen ein Lehrling gesucht wurde; und ich fand eine ganz gleine Notiz:  »Lehrling gesucht«. Ich zog mich sofort so 
                            gut an, wie ich konnte, und wanderte nach Kiel. Die 20 Pf. für die Straßenbahn hatte ich ja nicht. Ich fand das Haus, stieg eine Treppe hinauf, klopfte - und stand in der Elfenbein-Werkstatt. An einem langen Tisch in 
                            einem großen Raum saßen zwei Frauen und zwei Gesellen an der Arbeit. Hinten öffnete sich eine Tür, und der Meister Schneider kam auf mich zu: eine imponierende Erscheinung, sehr groß, schlank, mit langem blondem Haar. 
                            Ein richtiger Künstler, dachte ich. Ich fühlte mich sehr klein, wurde aber freundlich begrüßt und an den Tisch gesetzt. Schüchtern zeigte ich meine mitgebrachten Zeichnungen, die der Meister lobte, und antwortete auf 
                            Fragen, sagte, daß ich am liebsten Holz schnitzte, aber ich möchte es gern auch mit Elfenbein versuchen. Nach diesem kurzen Prüfungsgespräch gab mir der Meister gleich mündlich die feste Zusage, daß ich 
                            sofort bei ihm als Lehrling anfangen könnte. Glücklich erzählte ich zu Hause meinen erstaunten Eltern, sie brauchten sich nicht mehr zu bemühen, ich hätte eine Lehrstelle im Kunsthandwerk, ich wollte schnitzen und 
                            nichts anderes. Natürlich gaben sie ihre Zustimmung, obwohl sie nicht recht glaubten, daß mit Kunst auch Geld zu verdienen sei. Schon am nächsten Morgen durfte ich - überaus glücklich - anfangen, Ich 
                            mußte zunächst, wohl als Probe, eine kleine Blume aus Elfenbein aussägen. Nachdem ich mich an die winzigen Maschinen gewöhnt hatte, ging das recht gut, und der Meister war voll zufrieden. Am liebsten hätte ich dort in 
                            der Werkstatt gleich geschlafen, wie mir Ja auch zeitlebens später meine Holzwerkstatt der liebste Aufenthaltsraum war. Aber - ich mußte den langen Weg nach Hause antreten, von einem Glück erfüllt wie selten vorher. Von 
                            meinem ersten schmalen Lehrlingsgeld kaufte ich mir eine Monatskarte für den Zug, der billiger als die Straßenbahn war. Natürlich blieb dann von meinem Lohn nicht viel übrig, denn mein Meister verdiente selbst nicht 
                            viel; die Zeit kurz vor der Inflation war ungünstig für seine künstlerischen Arbeiten. So war das Geld sehr knapp, obwohl seine Frau als Gehilfin beim Rechtsanwalt zusätzlich etwas verdiente. Ich sah das ein und nahm 
                            alles so hin. Mir war die künstlerische Arbeit die Hauptsache. Früh um 8.00 Uhr begann derTag in der Werkstatt. Um 12.00 Uhr war Mittagspause. Ich aß mein mitgebrachtes Brot. Manchmal, wenn es ihr 
                            möglich war, bekam ich von der lieben Frau Schneider auch ein warmes Mittagessen. Im übrigen nutzte ich die Mittagszeit zum Entleihen von Büchern aus der Städtischen Bücherei. Alle Bände von Brehms Tierleben las ich und 
                            vertiefte damit meine große Liebe zu allen Wesen der Natur. Das größte Glück aber brachte mir das Buch, das Karl Schneider mir zu Weihnachten schenkte: Michelangelo, ein großer Bildband mit vielen Abbildungen und gutem 
                            Text. Ich las und las, schaute hingebungsvoll die Abbilder der Skulpturen, ließ sie in meinem Inneren neu und lebendig erstehen und wußte, daß von nun an Michelangelo mein großes Vorbild sein würde. Er blieb es bis in 
                            mein Alter hinein und wird es bleiben bis zu meinem Tod. Karl Schneider hat in der Werkstatt die Linie meiner künstlerischen Laufbahn bestimmt. Schon wegen dieses Hinweises auf Michelangelo bin ich ihm zutiefst dankbar. 
                            Der Lehrer Jessen und der Meister Karl Schneider sind die beiden großen wegweisenden Persönlichkeiten meiner frühen Jugend. Auch ich konnte ihm ein Geschenk machen. Ich schnitt seinen geliebten, 
                            verehrten Kopf in Alabaster als Gabe von mir, und er freute sich. Nach seinem Tode später gab seine Familie mir diesen Kopf zurück. Er ist heute in der Otto-Flath-Halle in Bad Segeberg. In dem ersten, 
                            schon so glücklichen Jahr bei Karl Schneider störte mich nur die Fahrt hin und her und vor allem, daß ich immer noch meine Eltern in ihrer engen Wohnung belastete. Ich wollte frei sein, sparte die 
                            Monatskarte und mietete mir ein nicht heizbares Dachkämmerchen am Adolf-Platz. Das war tatsächlich sehr billig. Ich konnte dort nicht schnitzen, aber ich hatte viel Zeit gespart jeden Tag und zeichnete viel trotz der 
                            Kälte im Zimmer. Schön war es, frei zu sein! Das war 1923, und ich war 17 Jahre alt. Nach zwei Jahren war die Elfenbeinlehre beendet. Während dieser Lehrzeit war ich in der Berufsschule bei den 
                            Tischlern, weil es keine Elfenbeinklasse gab! Da kam ich endlich wieder in Kontakt mit dem geliebten Holz und lernte den Umgang mit den Maschinen und der Technik der Holzbearbeitung, die mir später bei den ersten 
                            künstlerischen großen Werken zugute kam. Auch bei Schneider war es jetzt eine große Hilfe. Es kam die Inflationszeit. Die Menschen hatten kein Geld mehr, Schmuck und Kunststücke zu kaufen. So mußte Karl Schneider sich 
                            auf Gebrauchsgegenstände umstellen, um überhaupt existieren zu können. Deshalb arbeitete ich von 1924 bis Ende 1926 an hölzernen Lampen in der Schneiderschen Werkstatt. Auch das machte mir Freude. Ich habe später zu 
                            privaten Zwecken Lampen geschnitzt. Sie hängen noch in unserem Haus und in der Halle in Bad Segeberg. Leider war die wirtschaftliche Lage in diesen Jahren so schlecht in Deutschland, daß auch das Karl Schneiders Betrieb 
                            nicht retten konnte. Ein Mitarbeiter nach dem anderen mußte entlassen werden. Zuletzt blieb nur ich übrig. Als mein Meister auch mich nicht mehr bezahlen konnte, arbeitete ich gern einige Monate fast ohne Gehalt und war 
                            dann sehr böse auf ihn, als er das nicht mehr annehmen wollte und auch mich entließ. Das war Ende 1926. Zunächst, 1927, arbeitete ich noch in der Möbelfabrik Jäger als Tischler. Aber nach einem Jahr 
                            wurde mir auch da gekündigt. Das war 1928. |  |  | 
        
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                        | 1928 - 1932  ARBEITSLOS - ABER EIN STIPENDIUM AN DER KUNST- UND GEWERBESCHULE
 Diese Jahre von 1928 - 1932 waren 
                            wohl die schwersten in Kiel, aber dennoch, trotz der äußeren Not die innerlich erfülltesten. Schlimm war, daß ich das zweite Dachkämmerchen, das ich mir vom bei Jäger verdienten Geld gemietet hatte, wieder aufgeben und 
                            zurück zu meinen Eltern ziehen mußte. Schlimm war der demütigende Gang zum Arbeitsamt, das Anstehen, um das wenige Geld als Almosen in Empfang zu nehmen. Noch schlimmer war, daß ich nach ungefähr einem 
                            Jahr, also 1929 »ausgesteuert« wurde, d.h. kein Arbeitslosengeld mehr erhielt. Da habe ich in einer Kläranlage gearbeitet und Steine gekarrt, so als Aushilfe für einige Tage. Gegessen habe ich Brot mit Brühe aus 
                            Maggiwürfeln. Arthur war zu der Zeit schon ganz selbständig. Er hatte eine eigene Wäscherei und ließ mich dort gelegentlich arbeiten, um mir zu helfen. Trotz meiner Mißerfolge aber gab ich mein Ziel, 
                            Bildhauer zu werden, nicht auf. Ich meldete mich bei der Bildhauerklasse der Kunst- und Gewerbeschule in Kiel, bat um ein Stipendium und bekam es, als ich einige kleine Holzwerke gezeigt hatte, sofort. Das war das Glück 
                            in allem Unglück. Meine Lehrer waren die Professoren Schnoor und Blatzek. Da wir auch außerhalb der Unterrichtsstunden dort arbeiten durften, war ich fast den ganzen Tag in der Werkstatt, auch am Sonntag. Um Brot kaufen 
                            zu können, nahm ich, wie gesagt, zwischendurch kurze Gelegenheitsarbeiten an, auch als Aushilfe bei einem Gärtner. Das habe ich in guter Erinnerung, So gingen die entbehrungsreichen Jahre von 1928-1932 in harter Arbeit 
                            dahin. Aber im Grunde war ich sehr glücklich, denn ich konnte jeden Tag Holzskulpturen schaffen, zeichnen, lernen, mich ausbilden lassen für meinen Beruf als Bildhauer. Von diesem Ziel ließ ich mich auch nicht durch die 
                            Reden der Professoren und meiner Kollegen abbringen, die meinten, ich 
                            solle ins Kunstgewerbe gehen und Tischlerarbeiten machen. Nein, nie, - ich hatte mein festes Ziel. Ein Selbstbildnis, ein Aquarell aus dieser Zeit, zeigt meine Situation: trotz großer Not ein eisernes Festhalten am 
                            vorgesetzten Ziel! Man hat mir in meinem Leben oft nachgesagt, ich hatte zu wenig Willenskraft, was in Bezug auf eine kämpferische Lebenshaltung stimmt. Ich habe nie kämpfen können und kämpfen wollen. 
                            Ich ließ andere Menschen ihren eigenen Lebensweg gehen, und als ich selbst schwer angegriffen wurde von kirchlicher Seite in den frühen Segeberger Jahren, wehrte ich mich nicht, um die oberen führenden Mächte nicht zu 
                            hemmen. Sie halfen mir besser als ich es mit eigener Aktivität gekonnt hätte. Ich habe mich auf die göttliehe Führung verlassen und bin durch mein Leben hindurch von ihr getragen worden. Aber meinem inneren Auftrag, 
                            Bildhauer zu werden, meine inneren Bilder und Gesichte nach außen zu projizieren und damit den Menschen zu dienen, mußte ich durch alle Widerstände hindurch treu bleiben. Dafür setzte ich meine ganze Energie ein. Auch 
                            nach außen wollte ich nicht als Bettler erscheinen. Meine Bettler-Vorstellung hatte ich schon Jahre zuvor in den kleinen Frühwerken »Die Flüchtlinge« und »Der Bettler« (in der Kunsthalle Otto Flath, Bad Segeberg) 
                            gestaltet und mich dadurch selbst davon distanziert. Was gestaltet war, gehörte nicht mehr zu mir, fiel wie eine reife Frucht ab. Das ist bis heute so. Meine Werke können gerne in alle Welt ziehen. Ich brauche sie nicht 
                            mehr. Mich freut der Gedanke, daß sie anderen Menschen Freude bringen. Nein, der Bettler-Gedanke war von mir abgefallen, und das sollte auch äußerlich sichtbar sein. Wie ich es möglich machte, mir in 
                            diesen kümmerlichen Jahren soviel Geld vom Munde abzusparen, daß ich mir einen Schneideranzug anfertigen lassen konnte, weiß ich nicht mehr. Die Gewöhnung an schmale Kost meiner Kindheit und Jugend half wohl dabei. In 
                            diesen Jahren hatten unsere Eltern sich mit Hilfe ihrer schon verdienenden Kinder ein kleines Häuschen in Russee gekauft. Ich allerdings konnte wirklich kein Geld geben, stand aber sonst meinen Eltern bei, wie es mir 
                            möglich war. Oskar und Arthur veranlaßten, daß wir erwachsenen Geschwister und wohl auch die Jüngeren uns alle an einem Wochenende bei den Eltern in Russee trafen, um ihnen beim Torfstechen zu helfen für ihren eigenen 
                            Wintervorrat. Das kleine Häuschen, in dem sie nun zu unserer Freude wieder als freie Menschen leben konnten, nachdem der Vater während der Gutsarbeit schwer erkrankt war, lag im Moor bei Russee, außerhalb des Dorfes. 
                            Für uns, die wir in der Weite Rußlands aufgewachsen waren, hatte auch das schwarze Moor nichts Düsteres, Melancholisches. Es war eine reine unberührte Naturlandschaft, für mich das Beglückendste, das man in unserer zivilisierten Welt noch erleben kann. Wir 
                            verstanden, daß unsere lieben Eltern sich dort geborgen fühlten, und freuten uns mit ihnen. So rückten wir alle an, um ihnen Wärme für den Winter zu verschaffen: Torf stechen! Ich hatte keine Ahnung, wie man das macht, 
                            aber Oskar und Arthur dirigierten uns. Wir arbeiteten den Vormittag durch, und schon lagen große Haufen gestochener Torfstücke geordnet neben uns. Es war ein sonniger Sommer- oder Frühherbsttag. Die große Weite der 
                            dunklen, aber sonnenüberfluteten Moorlandschaft umgab uns. Kein Luftzug wehte. Da überkam mich in der Mittagsstille eine Art Entrückung, ein tiefes Erlebnis, das ich in meinem Leben nicht wieder vergessen habe. Das Bild 
                            hat sich mir eingeprägt. Über dem schwarzen Wasser, das in der Mittagssonne flimmerte, schwebte eine Fülle kleiner lebendiger Wesen, Fliegen, Mücken, Falter, Libellen. Auf der Wasseroberfläche glitten 
                            Wasserkäfer entlang. Da war mir, als sei ein Märchen Wirklichkeit geworden: Ich erlebte die Einheit der großen Natur, fühlte mich allen lebendigen Wesen verbunden, war nur noch Teil der großen harmonischen Einheit, dem 
                            Alltag völlig entrückt. Es war ein so starkes Erlebnis, daß ich noch heute die schwarze, geheimnisvoll belebte Moorlandschaft vor mir sehe und das Glück der Entsinkung in unbekannte, harmonische Bereiche einer anderen 
                            Welt empfinde, wenn dieses Bild in meiner Erinnerung auftaucht. Das war ein Arbeitstag in Russee. Ich liebte es aber auch, meinen eleganten Anzug zu tragen. Es stimmt also nicht, wie im alten Heft steht, 
                            daß ich äußerlich total abgerissen 1932 bei Familie Burmester erschien. Ich war auch absolut nicht verzweifelt, wie da gesagt wird, sondern sah hoffnungsvoll der Erfüllung meines inneren Auftrags entgegen. Mein Glaube 
                            hielt mich in allen schweren Ereignissen meines Lebens aufrecht, auch später im 2. Weltkrieg. Nur von diesem Glauben her kann man meine Kunst verstehen. Jedes Werk, das ich schuf, ist religiös, aber nicht jedes Werk ist 
                            christlich, obwohl ich Christ bin. In diesen äußerlich harten, innerlich glücklichen Jahren, weil ich täglich in der Schule arbeiten und lernen durfte, bin ich aber wohl schon Einzelgänger gewesen. Ich hielt mich auch, 
                            wenn irgend möglich, von den Zusammenkünften anderer junger Künstler in Cafes fern. Ich wollte meinen eigenen Weg gehen. Im Innern erwartete ich die Erfüllung meines Strebens. 
                            Sie kam, wie »von selbst«, im Februar 1932. |  |  | 
        
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                        | 1932 - 1936  DIE LEBENSWENDE:BEGINN DER KÜNSTLERGEMEINSCHAFT MIT BURMESTERS
 In Kiel, in der Hardenbergstr. 2, 
                            lebte der Korvettenkapitän Willy Burmester, der in seiner Freizeit malte, mit seiner Frau Ellen und ihrer Mutter Frau Dahms. Sie hatten keine Kinder; eine Pflegetochter hatte gerade geheiratet. Da sie in wohlhabenden 
                            Verhältnissen lebten und kunstinteressiert waren, beschlossen sie, etwas für junge Künstler zu tun. Sie waren etwa 10-15 Jahre älter als ich. Mit der Hilfe des sehr angesehenen Professors Georg Burmester - nicht mit 
                            Willy Burmester verwandt - gründeten sie in ihrer Wohnung am 9. Februar 1932 den »Kieler Künstlerverein«, der später »Künstlerbund Schleswig-Holstein e.V.« genannt wurde. Am 10. Februar 1932 sagte mir 
                            ein Mitschüler in der Kunstschule: »Du kriegst Besuch; das Ehepaar will anscheinend zu dir!« - - - Zu mir? Eine hochgewachsene, sehr schöne, noch junge Frau in einer bildschönen eleganten Pelzjacke trat mit ihrem 
                            schlanken Mann auf mich zu. Sie stellten sich vor und luden mich zum 15. Februar zur ersten Zusammenkunft des Vereins in ihre Wohnung ein. Ich nahm sofort an, völlig überwältigt von Ellen Burmesters liebenswürdiger 
                            Erscheinung. Ob ich an diesem ersten Tage schon ahnte, daß dies die Erfüllung meines Sehnens, Bildhauer zu werden, im Anfang war, die große Wende meines Lebens, die Erhörung meiner Gebete, weiß ich nicht mehr. Ich weiß, 
                            daß ich wie benommen nach Russee fuhr, daß meine Sehnsucht nach einer eigenen Werkstatt mich fast überwältigte - und ich den 15. Februar kaum erwarten konnte. Wie gut, daß ich meinen Schneideranzug hatte! Von dem Tage, 
                            als ich zum ersten Mal die Burmestersche Wohnung betrat, weiß ich nur noch, daß einige andere Künstler dort waren und ich überwältigt die sehr große, künstlerisch gestaltete Wohnung betrachtete. Nie vorher, auch nicht 
                            bei Herrn Jesse oder bei Schneiders hatte ich solche Schönheit gesehen. Im Mittelpunkt des Abends standen die beiden Burmesters, besonders Ellen Burmester in, wie mir schien, sehr kostbarer Kleidung. Sie war der 
                            Mittelpunkt des Abends und lud mich, als die anderen gegangen waren, ein, noch länger zu bleiben. So dauerte dieser erste Besuch bis in die Nacht. Daß ich dann in der Kälte und Dunkelheit über eisverkrustete Straßen die 7 km bis Russee zu Fuß gehen mußte, weil 
                            ich die 20 Pf. für die Straßenbahn nicht hatte, ahnten Burmesters nicht. Ich war auch so überglücklich, daß ich keine Kälte und keine Müdigkeit spürte, - hatte ich doch schon eine neue Einladung für einen baldigen 
                            Termin erhalten. Und nun wußte ich tief in mir, daß die Erfüllung meiner Sehnsucht, Holzbildhauer zu werden, nahe war, daß ein neuer Lebensabschnitt begonnen hatte. Burmesters hatten aber doch schon mehr 
                            von meiner Not geahnt, als ich wußte. Als ich nach ein paar Tagen wieder, und diesmal allein, bei ihnen sein durfte, kauften sie mir meine kleine lustige Kindergeschichte: »Flip und Flap« ab, mit bunten Zeichnungen und 
                            eigenen Versen dargestellt. Diese in der Notzeit geschriebene, fröhliche Geschichte zeigt auch, daß ich die Hoffnung nicht verloren hatte. — Und jetzt erfüllte sich alles: Dr. Sasse, ein nahe wohnender, befreundeter 
                            Arzt, gab mir ein Zimmerchen im Obergeschoß seines Hauses, in dem ich sogar kleine Holzarbeiten machen durfte. Frühstück wurde mir von dem Mädchen aufs Zimmer gebracht. Jeden Mittag aß ich mit an der 
                            großen Tafel bei Dr. Sasse. Fast immer waren Besucher da, meistens Musiker, an deren Musikgesprächen ich natürlich nicht teilnehmen konnte. Dr. Sasse, ein schmaler, sehr freundlicher Herr, schien mir immer übermüdet, 
                            aber seine schöne, junge, auch freundliche, lebenslustige Frau hatte gerne Besucher und machte mit ihrem Mann gerne Gesellschaften mit. Sie ist früh, in der Mitte des Lebens, gestorben. Dr. Sasse ist über 90 Jahre alt 
                            geworden. Anfang der 80er Jahre, als 90jähriger, hat er mich einmal besucht und war sehr beeindruckt von der Halle. Er habe noch einmal sehen wollen, was aus dem damals jungen Mann in seinem Hause geworden wäre, sagte 
                            er. Nun sei er voll zufrieden. Nachmittags und abends aß ich bei Burmesters und zeichnete viel. Ich fühlte mich dort bald ganz zu Hause, geborgen, da die beiden Burmesters wie Vater und Mutter für mich 
                            sorgten, mich so verstanden, wie es mir in meinem Leben noch nicht geschehen war. Da Dr. Sasses Zimmerchen zu klein war für Holzarbeiten und die Nachbarn durch das Hämmern nicht gestört werden sollten, besorgte Willy 
                            Burmester mir eine Werkstatt auf dem Hof eines Zahnarztes und ließ die vorher gekaufte Hobelbank aus Dr. Sasses Haus dorthin transportieren.  Ich war überglücklich.  Eine Werkstatt, eine eigene Werkstatt!! 
                            Endlich konnte ich große Werke schaffen! Und seltsam, wonach ich solange vergeblich Ausschau gehalten hatte, geschah 
                            Jetzt: Die Käufer kamen. Schon im Jahre 1932, das wirtschaftlich sehr schlecht war, wurden die ersten großen Werke schnell verkauft.»Die Kunst ist die Schwester der Religion« und »Der eigentliche Zweck unseres irdischen Daseins ist die Höherentwicklung unserer Seele« hatte ich am 15.  2. 1932 in das Burmestersche Gästebuch 
                            geschrieben. Schon im ersten Jahr, in dem ich eine eigene Werkstatt hatte, schuf ich in diesem Sinne die großen Werke: »Vertrauen« für das Krankenhaus in Wedel, die Gruppe »Licht«, zunächst in der Nicolai-Kirche in 
                            Kiel, später angekauft von der kunstbegeisterten Familie Darboven in Hamburg-Blankenese, und den ersten von ca. 50 Altären, der, zusammen mit einer Kreuzigungsgruppe, von dem Diakonissenhaus Kropp übernommen wurde. Er 
                            steht heute in der Halle. Andere große Werke entstanden: »Freundschaft«, »Zwei Menschen«, »Die Helfende«, »Die Betende«, und als Dank für Dr. Sasse und seine Frau »Hausaltar« und »Madonna«. Ich war dankbar, endlich auch 
                            schenken zu können. So drückte ich meinen Dank an Ellen Burmester während unseres gemeinsamen langen Lebens sehr oft so aus, daß ich ihr eben fertiggestellte kleine und auch große Skulpturen gleich schenkte. »Terli« 
                            steht dann in Ellens genau geführten Archiv-Registern. Terli war ihr Freundesname.  Oft schenkte sie aber solch ein Werk auch weiter, wie wir überhaupt neben dem Verkauf viele Werke verschenkt haben und 
                            nicht nur an nächste Freunde. Wir lebten in der Fülle der Gesichte, die Gestalt gewannen, da wollten wir auch möglichst viel andere Menschen teilnehmen lassen. Ich habe meine Kunst nie als mein Eigenes angesehen, 
                            sondern als Gabe aus oberen Bereichen, die ich weitergeben soll. Alle meine Werke sind nicht für mich da, sondern für die anderen. Ich selbst bin ein ganz gewöhnlicher Mensch. Das geht alles nur durch mich hindurch.  Sehr viele, auch kleinere Skulpturen entstanden in diesen Kieler Jahren von 1932-36. Auf Ellens Bitten hin schuf ich meinen eigenen Kopf in Holz, danach Willy und Ellen Burmesters Köpfe (die drei Köpfe 
                            stehen im Haus, Bismarckallee 5, Bad Segeberg). Köpfe berühmter und befreundeter Männer folgten: Graf Rantzau, Bach, Beethoven, Großvater Flath u. a. Die Käthe-Kollwitz-Büste wurde schon 1932 von der Gräfin Platen 
                            gekauft. Großvater Flath steht als Gipsmodell in der Werkstatt, Graf Rantzau im Rathaus Bad Segeberg. Außer den vorgenannten großen Werken entstanden in diesem Schaffensjahr 1932 40 etwas kleinere Werke. 
                            Sie wurden teils verkauft, teils verschenkt. Die Themen waren nun kaum noch traurige Menschen (Bettler, Flüchtlinge, Anklage an die Natur) und Tiere (Rebhuhn, Eule, Fuchs, Hahn, Eisvogel, Katze, Hunde, Hyänen), sondern 
                            froh aufschauende oder in sich gekehrte Menschen (Aufstieg, die Heilige, die Helfende, Madonna, Betende Frau, Erlösung, die Schwebende, Mutter und Tochter, Inspiration, der Hirte, Betender Mann, Singende Engel u. a.). Diese Jahre in Kiel, bevor wir 1936 nach Segeberg zogen, sind ein in ihrer Einzigartigkeit besonderer Abschnitt meines Eebens, nicht nur durch die überquellende Schaffenskraft,  auch durch die 
                            äußeren Umstände. Meine Eltern, die ich nur noch besuchsweise sah, lebten still für sich in ihrem Häuschen in Russee. Dort im Dorf wohnte schon meine jüngste Schwester Valentine mit ihrem Mann, Ernst Burau. Die beiden 
                            haben sich bis zum Lebensende unserer Eltern intensiv um sie gekümmert. Nach dem frühen Tode unserer Mutter zog unser Vater ganz zu ihnen in ihr schönes Haus, wo er bis zu seinem Tode blieb. Ernst Burau schnitzte gern. 
                            Das ergab später einen zusätzlichen Kontakt mit mir, so daß er, auch mit Vally, uns oft in Segeberg besuchte. Arthur war mit seiner Frau sehr beschäftigt in seiner eigenen gut gehenden Wäscherei. Auch 
                            Lydia stand voll im eigenen Betrieb ihres Mannes Wilhelm Hamann. Es war eine große Kohlenhandlung. Der jüngste Bruder, Berthold,  ging mit  seiner Frau  seinen  eigenen Weg,  so  daß  
                            die Umstände es verhinderten, daß wir uns öfter sahen. Alle Geschwister lebten in Kiel, auch die älteste Schwester, Anna Margarete, die sich aber frühzeitig von uns allen zurückgezogen hatte. Ich selbst 
                            war, wie gesagt, in diesen Kieler Jahren in einem ganz anderen Bereich, in einer gehobenen, bürgerlichen Gesellschaftsschicht. Zunächst habe ich nur gestaunt: über die wundervolle Wohnung der Burmesters, 
                            über ihr der Kunst hingegebenes Leben, über die Freiheit von materiellen Sorgen, über die freie und liebevolle Lebensgestaltung. In diesem Bereich fühlte ich mich vom ersten Tage an zugehörig und geborgen wie in einem 
                            geistigen Elternhause. Ich sah sie auch in diesem Sinne als »Eltern«, Pflegeeltern an und sie mich als ihren Pflegesohn. Das blieb so bis zu ihrem Tode 1977 und 1978. Es war und blieb mein Zuhause, diese 
                            Familiengemeinschaft mit Burmesters, aus der sich bald eine harmonische Künstlergemeinschaft entwickelte. [...] |  |  | 
        
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